Quo vadis Innenstadt?
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Quo vadis Innenstadt?

Neue Betrachtungen des urbanen Raums im Spannungsfeld von Online-Shopping, Klimawandel und Mobilitätswende



Die Verabschiedung des Infektionsschutzgesetztes zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie jährt sich am 28. März. Ausgangssperren, Kontaktverbote, geschlossene Gastronomie sowie verwaiste Kultureinrichtungen sind seither und in unterschiedlichen Phasen der Lockerungen Bestandteil unseres Alltags. Die Einschränkungen führen dabei nicht nur zu psychosozialen Veränderungen und angepassten kulturellen Codes, sondern prägen parallel die Wahrnehmung und Nutzung des innerstädtischen Raumes.


Die (notwendige) Trendwende im Städtebau begann nicht erst im Jahr 2020, vollzieht sich im Spiegel aktueller Ereignisse jedoch mit galoppierendem Tempo. Bereits vor über 10 Jahren wurden erste Marktanalysen durchgeführt, um dem prognostizierten Innenstadtsterben strategisch vorzubeugen. Heutzutage besorgt die verstärkte Konsumenten-Präferenz für Online-Shopping große Einzelhändler sowie Betreiber kleinerer, inhabergeführter Geschäfte gleichermaßen. Lösungsansätze liegen, wie einige erfolgreiche Beispiele zeigen, in der Verbindung von Shopping, Erlebnis und Emotionen. So können Feinkostläden Verkostungen anbieten, Bekleidungsgeschäfte Fotoboxen aufstellen, oder einen persönlichen (Internet-) Auftritt wagen. Ziel ist, dass die Bindung zwischen Kunde und Einzelhändler intensiviert wird.
Ebenso ist ein modernes und attraktives Warenangebot A & O jeder wettbewerbsfähigen Geschäftseinheit. Nachhaltigkeit, Regionalität und Selbstgemachtes („DIY“) stehen inzwischen bei vielen Verbrauchern hoch im Kurs. In sogenannten Pop-Up Stores, welche von Monat zu Monat variabel genutzt werden können, variiert das Produktsortiment je nach Ausstatter und lokalem Absatz. Das gesellschaftlich gesteigerte Bewusstsein für die Endlichkeit natürlicher Ressourcen macht weitere Konzepte, wie Tausch- und Flohmarktläden, attraktiv.


Anstatt Internetverkäufe mit Argwohn zu betrachten, sollten Einzelhändler die synergetischen Effekte von stationärem und Online-Handel nutzen: Click & Collect, das Bestellen von Waren zu naheliegenden Geschäften, wird von der breiten Masse als neuer Verbraucherservice sehr gut angenommen. Novi im Service- und Angebotsbereich sind zu treffen, indem Läden zu Mikroverteilzentren (Micro Hubs) für Pakete werden: Neben der Erlebnissteigerung wirkt sich dies, einem Strategiepapier des Netzwerks „Zukunft des Einkaufens“ zufolge, positiv auf die Kundenfrequenz aus.


Wenn Bauherren, oftmals die Kommune selbst, neue Einheiten zur Gewerbe- oder Mischnutzung planen, sollte grundsätzlich auf Variabilität geachtet werden. Dass der Grundriss in gewerblich genutzten Etagen möglichst offen gestaltet sein sollte, ist beste Voraussetzung für die nutzungsbezogene Adaption. So könnte eine Markhalle neben einem Büro für Gründerberatung, einem Co-Working-Space oder einem E-Mobilitäts-Center erdgeschossig angeordnet werden.


Eines ist allerdings klar zu stellen: Die Zukunft der Innenstädte bzw. Ortsmitten ist nicht dezidiert an eine Flexibilisierung und Attraktivierung des Einzelhandels geknüpft. Zentral ist eine Kombination dessen mit Produktionsstätten und bezahlbarem Wohnraum. Aktuelle Studien illustrieren, dass produzierendes Gewerbe, integriert in Innenhof-Werkstätten oder als Teil größerer, zentral gelegener Gebäudekomplexe, ein Besuchermagnet sein kann. Der soziale Wohnungsbau muss aus städtebaulicher Sicht anvisiert werden, zumal die jüngste statistische Auswertung des Deutschen Bundestags erkennen lässt, dass die Bundesregierung dem gesellschaftlichen Bedarf an leistbarem Wohnraum nicht erfüllt. Seit 2007 hat sich die Anzahl der Sozialbauwohnungen halbiert. Grund hierfür ist, dass nicht nur zu wenige Sozialwohnungen gebaut, sondern auch, dass in letzter Zeit viele Objekte aus der sozialwohnbaulichen Bindung (bzgl. Belegung/Preis, Aufhebung nach ca. 12- 20 Jahren) herausgefallen sind.


Der soziale Wohnungsbau ist eng mit dem Themenkomplex der städtebaulichen Dichte verbunden. Im Zuge der Industrialisierung entstanden Mietskasernen und Elendsbaracken, welche ihre Betitelung aufgrund viel zu knapp bemessener Wohnräume, ausbleibender Raumbelüftung, kleiner Innenhöfen und weitgehender Verschattung erhielten. Schließlich revoltierten die aus dem 1. Weltkrieg zurückgekehrten Soldaten und sorgten im Rahmen der Novemberrevolution für die ersten sozialen Wohnbauten. Die katastrophale Hygienesituation und rasante Seuchenausbreitung in Städten wie Berlin oder Hamburg, führte im 20. Jahrhundert zu neuen Paradigma im Städtebau mit einer Festlegung sinnvoller Abstandsflächen. Die Anfang 2021 neu gefasste Bayerische Bauordnung (BayBo) setzt letztere von 1,0/0,5 Gebäudehöhen (H) auf 0,4/0,2 H herab. Diese Änderung ermöglicht es bayerischen Städten und Gemeinden unter 250.000 Einwohnern - diametral zu historischen Erfahrungen - eine starke Nachverdichtung. Ob die von der BayBo festgesetzten Abstandsflächen gelten sollen, müssen Kommunen angesichts jeweiliger Standortfaktoren klug abwägen. Einige Gemeinden, wie Gauting oder Neufahrn bei Freising, haben bereits Satzungen als „Ausnahme von der Regel“ verabschiedet. Architektin und Stadtplanerin Prof. Dr. Ingrid Krau weist darauf hin, dass eine hohe städtebauliche Dichte das Covid-19-Infektionsgeschehen negativ beeinflusst hat. Exemplarisch verweist die Autorin von „Corona und die Städte: Suche nach einer neuen Normalität“ (2021) auf den Wohnkomplex Gratte Ciel in Villeurbanne bei Lyon, dessen Bewohnerstruktur eines beweist: Menschen aus prekären Lebens- und Wohnverhältnissen sind den gesundheitlichen Gefahren dichter Bebauung weiterhin verstärkt ausgesetzt.


Städtebauliche Dichte bedingt das lokale Meso- und Mikroklima. Größere Entwicklungen, wie die Erderwärmung samt extremer Wetterlagen, wirken ebenfalls auf den städtischen Raum ein. Dieser Tatsache sind sich Bund und Länder bewusst. Das Bundesministerium des Inneren bietet, ebenso wie das Bayerische Landesamt für Umwelt, offerieren elektronische Handreichungen zur bauplanerischen Bewältigung des Klima-Umbruchs. Klimaanpassungen sind mithilfe kompakter Bau- und Siedlungsformen, den Erhalt zusammenhängender Flächen in Gewässernähe, sowie durch den Einsatz klimafreundlicher Anlagen zur Energiegewinnung und - Versorgung umzusetzen. Nicht zuletzt wird darauf verwiesen, dass die Innenentwicklung selbst zum potentiellen Klimaretter wird. Eine planerische Konzentration auf den urbanen Bestand bzw. die Revitalisierung brachliegender Flächen im Ortsinnern kann verhindern, Baugebiete an bislang unversiegelten Ortsrändern aktivieren zu müssen. Fest steht, dass ein hoher Versiegelungsgrad die notwendige Frischluftzufuhr behindert, zur Aufheizung von Baustrukturen führt und den Oberflächenabfluss von Regenwasser erschwert. Dagegen sind begrünte Freiflächen (Parkanlagen etc.), extensive Fassadenbegrünungen, Biotop-Dächer und Dachgärten mit Aufenthaltsoption einem angenehmen Mikroklima zuträglich. Dass auf Nachhaltigkeit und Recycling-Fähigkeit von Baumaterialien geachtet werden muss, ist bereits in vielen Kommunen common sense.


Zur Abfederung klimatischer Veränderungen ist es essentiell, dass Einwohner ein ökologisch verträgliches Fortbewegungsmittel wählen können. Helmut Dedy, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages, gibt einen perspektivischen Ausblick auf die Mobilitätswende, welche sich bis 2030 vollziehen und durch Effekte des Home-Office beschleunigt würde: Massenverkehrsmittel ersetzen dank infrastruktureller Verstärkung den motorisierten Individualverkehr im öffentlichen Straßenraum, mehr Flächen für Räder und Fußgänger würden geschaffen und es gibt eine andere Form der Parkraumbewirtschaftung. Multifunktionsstreifen figuieren - als integraler Teil von Mischflächen oder als getrennte Bänder neben der Fahrbahn - eine Alternative zu herkömmlichen Stellplätzen. KFZ können den Streifen für das kurzzeitige Parken sowie zum Be- und Entladen nutzen, ebenso ist es denkbar, diese Zonen für den Fahrradverkehr freizugeben oder temporär als Veranstaltungsfläche zu nutzen.


Unter dem Eindruck der Krise und eines grundsätzlichen „Klima des Wandels“ müssen Vertreter von Städten und Gemeinden herausarbeiten, in welche Richtung sich Ihre Ortsmitten entwickeln sollen. In einem Austauschprozess mit Bürgern und Interessensgruppen muss diskutiert werden, welche neuen Ansätze und Trends (öffentliche Raumgestaltung, Zukunft des Einzelhandels, Mobilitätswende, Klimaanpassung) vereinbar mit lokalen Bedürfnissen oder sogar essentiell für eine prosperierende Standortaufstellung sind.




Quellen

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Bayerisches Landesamt für Umwelt (2021): Klimafolgen und Anpassung im Städtebau, https://www.lfu.bayern.de/klima/klimaanpassung/bayern/staedtebau/index.htm.


BDA Denklabor (2020): #13 Aktuelle Herausforderungen für Städte und Kommunen – Chancen für Veränderungen (Podcast, veröffentlicht am 17.12.2020), https://bda-denklabor-dont-waste-the-crisis.stationista.com/bda-denklabor-13-aktuelle-herausforderungen-fuer-staedte-und-kommunen-chancen-fuer-veraenderungen_5fdb42903de7a034cf15747c.


Dr. Grobe, A. / Rissmann, M. (2017): Smart City Charta. Digitale Transformation in den Kommunen nachhaltig gestalten, https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/themen/bauen/wohnen/smart-city-charta-langfassung.pdf?__blob=publicationFile&v=7


Fugmann, F. et al. (2019): Öffentliche Räume im Zentrum der Städte Nutzung, Bedeutung und Entwicklung, https://www.vhw.de/fileadmin/user_upload/08_publikationen/vhw-schriftenreihe-tagungsband/PDFs/vhw_Schriftenreihe_Nr._14_Oeffentliche_Raume.pdf.


Hedde, B. et al. (2020): Innenstädte als Besuchermagneten? Wie Frequenz und Leaderhöhung gelingen!, https://kompetenzzentrumhandel.de/wp-content/uploads/2020/06/innenstaedte-als-besuchermagneten_leitfaden.pdf.


IHK Erfurt (2021): Trends im Einzelhandel, https://www.erfurt.ihk.de/branchen/handel/trends-und-entwicklungen-im-handel/trends-im-einzelhandel--395320
Kaufmann, K. et al. (2020): Bündle und herrsche. Microhubs als Frequenzbringer für den Offlinehandel, https://kompetenzzentrumhandel.de/wp-content/uploads/2020/10/leitfaden_micro-hubs.pdf.


Krau, I. (2021): „Corona und die Städte: Suche nach einer neuen Normalität“, oekom verlag. München 2021.


Matthes, F./ Karten, M. (2011): Klimaschutz und Klimaanpassung im Stadtumbau Auswertungspapier der Bundestransferstelle Stadtumbau West, https://www.staedtebaufoerderung.info/StBauF/SharedDocs/Publikationen/StBauF/StadtumbauWest/Schwerpunktthema_Klima.pdf?__blob=publicationFile&v=1.


Schmidt, J. et al. (2013): Neue Mobilität Für die Stadt der Zukunft, https://www.stiftung-mercator.de/content/uploads/2020/12/Neue_Mobilitaet_fuer_die_Stadt_der_Zukunft_Gesamtergebnisse.pdf


Foto: Tom Hirschmann - Marktstraße Wolfratshausen